Hysterikon • Ingrid Lausund • Kammerspiele Theater Augsburg • Dezember 2005 • Bayerische Theatertage 2006
Mit:
Christine Diensberg, Nicole Schneider, Stephanie Gossger, Thomas Peters, Nikolai Ritzkowsky, Robert Kowald und Oliver Bode.
Bühne/Kostüme: Susanne Pische
Bilder: Christine Diensberg
Satire 'Hysterikon' von Ingrid Lausund in Augsburgs Komödie
Zwischen „Satyricon“ und „Dekameron“ schlingern Assoziationen beim Titel „Hysterikon“. Ganz falsch liegt man nicht, erinnert man sich an Fellinis dekadenten Sittenspiegel aus dem alten Rom oder an Boccaccios satirischen mittelalterlichen Bilderbogen. Nur ist hier alles viel hysterischer und nicht mehr poetisch verklärt, sondern irgendwie aus Plastik. Ingrid Lausunds Stück, das in der Augsburger Komödie herauskam, gibt unserer Zeit ganz schön Saures.
Denn in der Shoppingwelt eines Supermarktes, die von der 40-jährigen Ingolstädter Autorin vorgeführt wird, spielen sieben arme Würstchen verrückt. Sehr zum Amüsement, aber auch zum betroffenen Schlucken des vorweihnachtlichen Publikums. Es war sicher auf einige satirische Hiebe gefasst, doch Britta Schreiber wusste den Konsumrausch so zu inszenieren, dass Ingrid Lausunds tieferes Anliegen besonders drastisch und nicht nur lustig zum Ausdruck kam. Schon die Tatsache, dass „shopping“, also das eigentlich nur lebensnotwendige Beschaffen von Gütern, bei uns mittlerweile zum anthropologischen Gesamtplan unseres Daseins gehört, wie Religion, Sexualität, Gefühl oder auch Sport, Verreisen und Kultur, muß Lausund bis aufs Blut gereizt haben. Und ihre Fantasie.
In verschachtelter Szenenfolge sich tägliche Ereignisse zum Albtraum stilisiert. Auf Susanne Pisches Bühne mit dem neonfarbig nach hinten verlängerten Regalschlauch, lässt Britta Schreiber den Supermarkt zum symbolisch abstrahierten Weltenort mutieren. Wie unter Trance, zur synthetisch wummernden „Kauf doch“-Musik schieben zu Beginn sechs Konsum-Monster, in Plastikregenhäute gehüllt, ihre Einkaufswägen, schweigend, starren Blicks – ein Arrangement wie ein Tanztheater. Und dann geht`s`los. Regie führt nun der Kassierer, der wie ein lieber Gott im Warenhimmel Schicksal spielt, der vom Kundenkärtchen zügig Geld und Lebenszeit abbucht, der die inneren Stimmen der Kauftruppe über die Sprechanlage deklamiert. Mit wunderbar sachlicher Unverschämtheit, mal schnodderig ätzend, mal scheinheilig, spielt Thomas Peters diesen banalen Allmachtsschnösel.
Und sie kreisen um sich selbst, irritiert vom unendlichen Warenangebot, vom gnadenlosen Nachrichtenprasseln der Info-Gesellschaft, irritiert ferner vom immer unübersichtlicher werdenden Sozialgefüge: ein Panorama sorgfältig ausgesuchter Charaktere. Da gibt es das nervende Gutmenschentum, das dem farbigen – deutschen – Mädchen ungefragt Solidarität in Gestalt einer politisch korrekt verantwortbaren Seife aufdrängt: Nicole Schneider mit hinreißend modellierter Peinlichkeit, auch als Yuppie-Partnerin des Yuppie-Partners (Nikolai Ritzkowsky), der wiederum vom jähen Verliebtsein zum schwarzen Mädchen schwafelt – und dieses (Christine Diensberg: virtuos verwirrt) leidet paranoisch darunter, sich nicht mehr ent-scheiden zu können – ob Joghurtsorte oder Mann.
Da geistert ein potenzieller Amokläufer herum, der später sein Trauma käuflicher Heiligenbildchen aus urkatholischer Kindheit aufarbeitet (skurril und gefährlich: Robert Kowald). Und er vollführt außerdem einen peinlichen Werbetanz um die Schöne, die es als Sexangebot in der illuminierten Tiefkühltruhe gibt – mit sinnlos auftrumpfender Vamp-Attitüde: Stephanie Gossger. Einer hat lange nichts gesagt, hat nur seinen Wagen herumgeschoben, dann bricht`s aus ihm heraus: Oliver Bode als alter Mann, der sich nicht einmal mehr im vergilbten Fotoalbum erkennt. Fazit: „Hysterikon“ zwischen Beckett, Valentin und Kabarett.(Manfred Engelhardt)
Im Supermarkt des Lebens stehen Glück und Moral neben dem Joghurt, die Blondine ist das Sonderangebot in der Kühltruhe, der Blowjob liegt neben den Chips. Hier hat alles seinen Preis, und wer von der Liebe oder auch nir einem romantischen Nachmittag träumt, der muss dafür bezahlen – zack, schon sind auf der Traumkarte nur noch 388 Punkte. Ob das viel oder wenig sei, will Nikolai Ritzkowsky als der „Mann in Armani“ wissen, doch erntet er nur schallendesGelächter von Thomas Peters. Der ist für die Rolle des Kassierers die Idealbesetzung, ist Showmaster und Deus ex Machina, großer Zampano und Gott der kleinen Konsumwelt, begleitet die typenhaften Figuren – „das sind nur Beispiele“ – mit Sounds aus dem Synthesizer, schäkert mit dem Publikum und ist der Philosoph der Lebensökonomie. Zwar versteht er als einziger dieses System von Tauschbeziehungen, von Haben und Soll, vom Preis, den jeder zahlen muss – ihm entkommen kann aber auch er nicht.
Kaufen, zahlen, wollen, wünschen, bekommen. Das mag gerade in der Vorweihnachtszeit seinen speziellen Reiz als Theaterstück haben, aber trägt das zweieinhalb Stunden lang? Die Parabel von der Geschäftsmäßigkeit des Lebens, die Großmetapher von der Ökonomisierung aller Lebensbereiche – ist das nicht abgegriffen, oder um in der Sprachen des Stücks zu bleiben: billig, ein Ramschangebot sozusagen? Es würde nicht tragen, wenn Regisseurin Britta Schreiber „Hysterikon“ tatsächlich als kapitalismuskritische Satire auf den Fetisch der Waren und den Götzen des Konsums verstanden hätte. In der bunten, aber auch klaustrophobischen Supermarktwelt, die Susanne Pische auf die Bühne gestellt hat, inszeniert sie aber eher ein melancholisches Kammerspiel über Sein und Schein, den Wahn und die Wirklichkeit – auch im Diskounter des Lebens ist im Grunde alles eitel, so fern ist der Vergleich mit Calderon und seiner barocken Welt also gar nicht.
„Hysterikon“ umspielt die drohenden Plattheiten aber auch deshalb, weil Britta Schreiber geschickt mit Licht und Musik arbeitet und so immer wieder Bilder von hoher Suggestivkraft erzeugt; und weil der reigenartige Aufbau allen Schauspielern Raum lässt. So können neben Thomas Peters Nicole Schneider, Nikolai Ritzkowsky, Stephanie Gossger, Robert Kowald glänzen und den Typen jeweils Individualität und Charakter geben. Das gilt vor allem aber für Christine Diensberg als „das schwarze Mädchen“ und Oliver Bode als „der alte Mann“, der merkt, dass sein ganzes Leben „falsch“ war. Aber Umtausch ist im Supermarkt des Lebens ausgeschlossen, gezahlt ist gezahlt, und dass das Konto am Ende immer unausgeglichen ist, merken wir zu spät. Nein, Trost gibt es bei Ingrid Lausund nicht, auch keine „Botschaft“, nur ein nachdenkliches Stück – über den Sinn des Lebens.
Für eine starke Inszenierung und eine ebensolche Ensembleleistung gab es in Augsburg eher zurückhaltenden Applaus bei einer nicht gerade überfüllten Premiere. Waren wahrscheinlich alle noch unterwegs, Weihnachtsgeschenke einkaufen. (Berndt Herrmann)
Der Kassierer (hervorragend Thomas Peters) hat die Kontrolle über alles, er bucht von der Kundenkarte der Einkäufer ab, bis, ja bis nichts mehr da ist – irgendwann ist die Karte leer, ist das Leben leer und der Tod ereilt den Einkäufer. Was menschlich ist, findet Platz im Supermarkt: Eitelkeiten, Unkonventionelles, Bedürfnisse, Launen, Geilheit, Sehnsucht. Britta Schreiber fand für die Inszenierung dieses psychologisch vielschichtigen Werks die richtige Menge Witz und Tempo im stilisierten Bühnenbild von Susanne Pische, um amüsant diesen „Lebensmittel“-Supermarkt zu zeigen, der letztlich darauf aufmerksam macht, dass man den Wert einer Sache immer erst erkennt, wenn sie nicht mehr da ist: Oma, Papas Prostata … Sehr zu empfehlen. (Stefan Gruber)