Der Kaukasische Kreidekreis • Bertolt Brecht • Landestheater Schwaben, Memmingen • 14. Januar 2011
Ausstattung: Rahel Seitz
Presse
Allgäuer Zeitung, 17.Januar 2011
In gewisser Hinsicht hat eine Brecht-Inszenierung bisweilen Ähnlichkeit mit einer Bibelexegese. Mit Schlagwörtern wie „episch“ und „V-Effekt“ wird hantiert wie mit rohen Eiern und wie die Auslegung der Heiligen Schrift rief auch die Brecht-Rezeption schon so manchen Sektierer auf den Plan, der die Deutungshoheit für sich beanspruchte.
Angenehm frei von einer derartigen theoretischen Überfrachtung und wohltuend unbeeindruckt von den damit verbundenen „Konfessionsdebatten“ zeigte sich Britta Schreibers Inszenierung des „Kaukasischen Kreidekreises“, die am frisch renovierten Landestheater Schwaben Premiere feierte. Die Regisseurin hat sich mit dem Text auseinandergesetzt, hat gestrichen, wo es nötig war und eine schlanke, kompakte Produktion auf die Bühne gestellt, der es in seltener Weise gelingt, die Essenz und die Stärken der Vorlage herauszuarbeiten: die aufs Wesentliche, fast schon Banale reduzierte erzählerische Struktur, das Parabelhafte, das sich selbst ausstellt, den manchmal derben Witz.
In einer stimmigen Sequenz präziser Bilder erzählt die erste Hälfte der Aufführung die Geschichte der Küchenmagd Grusche (überzeugend gutgläubig und naiv: Michaela Fent), die ein fremdes Kind mit ihrem eigenen Leben beschützt, nur weil es sie „anschaut wie ein Mensch“. Und wenn man schließlich als Zuschauer in die Pause geht, hat man das Gefühl: Auch ich werde hier als Mensch angeschaut, ich werde ernst genommen und im Gegenzug ist das, was auf der Bühne passiert, wert, auch von mir ernst genommen zu werden. Die zweite Hälfte des Abends, die der Geschichte des Dorfschreibers/Richters Azdak gewidmet ist, der am Ende über Grusche zu Gericht sitzen wird, schwankt zwischen Burleske und Satire, jedoch ohne der Gefahr nachzugeben, in die reine Karikatur abzugleiten, und ist im Vergleich mit dem ersten Teil des Stückes, fast collageartig, stärker von assoziativen Strukturen geprägt. Die Regie nützte dabei einmal mehr den gesamten Bühnenraum und versteht es, die hergestellten räumlichen Beziehungen dramaturgisch geschickt zu nutzen, unter anderem auch durch den vermehrten Einsatz einer auf der Bühne bedienten Videokamera, deren Bilder simultan auf mehreren neben und auf der Bühne platzierten Fernsehern gezeigt werden.
Was von dieser Theatererfahrung zurückbleibt, ist die erneuerte Überzeugung, dass es möglich ist, Stücke von Brecht zur Aufführung zu bringen – ohne dabei brechtischer sein zu wollen als der Mann selbst, und auf eine Art und Weise, die zeigt, dass diese Texte nach wie vor mit Gewinn gespielt werden können. Britta Schreiber ist mit ihrer Inszenierung des „Kaukasischen Kreidekreises“ in Memmingen eine ebenso behutsame wie intelligente „Aktualisierung“ eines längst kanonisierten Dramas gelungen, die gänzlich ohne Holzhammer auskommt, ohne den berühmten Wink mit dem Zaunpfahl, das mühselige Ausbuchstabieren aktueller Bezüge.
Momente wie diese sind es, die einem in Erinnerung rufen, warum man dafür plädiert, dass sich möglichst jede Stadt auch ein Stadttheater leisten sollte. (www.deutsche-buehne.de)
Juristen dürften die Haare zu Berge stehen. Richter Azdak stützt sich bei seinen Urteilen auf ungewöhnliche Weise auf das Gesetzbuch: Er nutzt es als Rückenlehne, aber nicht als Grundlage für seine Entscheidungen. Die trifft er mehr aus dem Bauch heraus und – nach der Höhe der Bestechungsgelder, die ihm zufließen.
Azdak ist ein Kind seiner Zeit, einer in sich völlig maroden Gesellschaft. So schildert ihn Bert Brecht in seinem Schauspiel «Der kaukasische Kreidekreis», und so stellt ihn auch Regisseurin Britta Kristina Schreiber in einer Produktion des Landestheaters Schwaben auf die Bühne des Hauses Oberallgäu in Sonthofen – und distanziert sich dennoch vom Original.
Ende des Zweiten Weltkriegs im amerikanischen Exil entstanden, verbindet Bert Brecht in diesem «Kreidekreis» seine Kritik an bürgerlichen und kapitalistischen Systemen mit der Hoffnung, der Kommunismus könne für ein gerechteres Zusammenleben unter den Menschen sorgen. Nach dem Scheitern der kommunistischen Systeme in Osteuropa trägt solche Utopie das Stück heute kaum mehr.
Regisseurin Britta Kristina Schreiber dämpft wohl daher das politische Sendungsbewusstsein des Werkes etwas und konzentriert sich mehr auf zeitlose Aspekte. Sie arbeitet in Brechts Neubearbeitung einer alten chinesischen Legende vor allem allgemeine menschliche Verfehlungen heraus, wie sie uns heute immer noch oder schon wieder begegnen können – nicht nur in einem von Bürgerkrieg gebeutelten Land wie Grusinien, in dem die Handlung angesiedelt ist.Ethische Werte existieren dort kaum mehr, fast jeder sucht nur noch nach eigenem Vorteil, nach eigener Befriedigung. Erst allmählich wächst in diesem Umfeld die Magd Grusche über sich hinaus und wird zur Retterin eines kleinen Kindes, das von seiner Mutter auf der Flucht im Stich gelassen wurde.
In Form eines Lehrstücks erzählt Brecht diese Leidensgeschichte einer jungen Frau und entwickelt auf dem Theater ein Spiel im Spiel, das für zahlreiche Brechungen sorgt. Diese Dramaturgie der Verfremdungseffekte steigert die Inszenierung noch weiter, in dem sie konsequent jeden Darsteller in mehrere Rollen des figurenreichen Stücks schlüpfen lässt. Das geht soweit, dass der betagte Peter Höschler nicht nur den ergrauten Vater des kleinen Michel geben muss, sondern auch das Kind selbst.
Dabei werden die Figuren, die Brecht auf die Bühne stellt, einfache Typen, in dieser Inszenierung stets präzise und meist bitterböse skizziert: mal grell überzeichnet, mal realistischer konturiert. Sehr homogen wirkt dabei die schauspielerische Leistung des achtköpfigen Ensembles, das bis in jede kleine Nebenrolle hinein überzeugend agiert.
Spartanisch, ganz im Sinne eines spontan improvisierten Spiels, wirken Bühnenbild und Requisiten (Rahel Seitz), wobei modernere Medien wie Videokamera und Röhrenfernseher sinnvoll ins Bühnengeschehen integriert sind und nicht bloß als schicke Maske dienen.
So wird die zweieinhalbstündige Aufführung beim Sonthofer Theaterfrühling zu einem erlebnisreichen, ja zum Teil sogar erkenntnisreichen Abend, an dessen Ende Brechts Umkehrung der überlieferten Legende steht: Nicht die leibliche Mutter erhält den kleinen Michel zugesprochen, sondern die Pflegemutter Grusche. Denn diese beweist Herzlichkeit und Verantwortung. Es wäre ein Happy End, hätte das Urteil ein weiser Richter gesprochen. Aber es war Azdak.