Norway.Today • Igor Bauersima • Kammerspiele Theater Heilbronn • 05.11.2006
Darsteller: Viola Neumann, Henning Sembritzki
Regie & Bühne: Britta Schreiber
Videos & Musik: Mirko Borscht
Das einzige, was Bestand hat, ist Langeweile, sagt August. Julie kann Langeweile nicht ausstehen. Auf einer Internetseite für Todessüchtige haben sie sich kennen gelernt. Alleine zu leben findet Julie pathetisch, aber auch alleine zu sterben.
„Möchte jemand mit mir in den Tod gehen?“, fragt Julie im virtuellen Reich des Chatrooms. Mit Sinn stiftenden Hirnkonstrukten wie Vermehrungswahn mag sie nichts anfangen und sucht im weltweiten Web nach Gleichgesinnten. Auch August hadert mit der Frage, was echt ist und was Fake. Der gemeinsame Freitod soll endlich die echte Handlung sein in einer Welt, die sie als unecht empfinden. Wie der Hilfeschrei einer ganzen Generation klingt ihr empörtes „Hier geschieht nichts Echtes“ .
Inspiriert durch eine Notiz im „Spiegel“ – Norweger sucht jemanden für gemeinsamen Selbstmord – hat Igor Bauersima das Zwei-Personenstück „Norway.today“ geschrieben, eine Selbstmordstory und Liebesgeschichte mit offenem Ende. In den Spielzeiten 2002/03 und /04 war „Norway.today“ das meistgespielte Stück an deutschsprachigen Bühnen. In Heilbronn hat Britta Schreiber jetzt den verstörenden Text über eine gefährliche Begegnung in den Kammerspielen inszeniert. Eine überwiegend dichte Annäherung an ein Paradoxon: Als sich Julie und August in der Einsamkeit eines norwegischen Fjords verlieben, wohin sie sich zum Sterben zurückgezogen haben, verlassen sie den Schutzraum ihrer digitalen Erlebniswelt. Eine neue Versuchsanordnung über das Leben beginnt.
Wie Bauersima lässt auch die Regisseurin hoffen, dass die Liebe stärker ist als Egotrip und Todessehnsucht. Am linken Bühnenrand, wo in den Kammerspielen die Mischpults der Technik stehen, und auf den Rängen rechts verständigen sich Viola Neumann als Julie und Henning Sembritzki als August über die Zuschauerköpfe hinweg. Die sind wie die anonyme Masse im Internet Teil des Ganzen, ohne teilzuhaben. Neumanns Julie ist trotzig entschlossen, Sembritzkis August zögerlich, aber dabei. Mit Schnittchen mit Ei, Zelt, warmer Kleidung und ihren obligatorischen Videokameras ziehen sie sich zurück an eine steil abfallende 600 Meter hohe Klippe in Norwegen, um zu springen.
Britta Schreiber interessiert weniger der Todesthrill, sondern der Blick ins Innerste ihrer Helden. Sembritzki gibt einen nervös-unbekümmerten jungen Mann, der schon einmal von Immanuel Kant gehört hat, fein rappen kann und fasziniert ist von Julie, die „was Trauriges, leicht Verdorbenes“ hat. Anfangs kühl und distanziert, ist auch Neumanns Julie hinter der Fassade eine Verletzbare, die geliebt werden will.
Schreiber, die auch die Bühne ausgestattet hat, mischt zusammen mit Videofilmer Mirko Borscht die Ebenen von Wahrnehmung und Empfinden – und zeigt, wie fließend die Grenzen sind. Das sich Überlappen von live auf der Bühne und vorher gedrehten Filmszenen mit Theaterszenen ist ein Merkmal von Igor Bauersimas Stücken, das Schreiber und Borscht aufgreifen, um formal und inhaltlich das Spiel mit vermeintlichen Wirklichkeiten und geborgten Identitäten auf kleinsten Raum zu bannen.
Auf einem drei, vier Meter langen und gut zwei Meter tiefen Podest in der Bühnenmitte sitzen die Lebensmüden auf einem blauen Schlauchboot, das zum Zelt umfunktioniert wird. Ein Ventilator sorgt für Wind, schwere Wolken, projiziert auf eine Leinwand von der Größe eines Alten Meisters, ziehen vorüber. Alles Fake und doch von einer eigenwilligen Selbstverständlichkeit. Als Julie und August Abschiedvideos drehen für Familie und Freunde – damit was bleibt – kippt die Geschichte ins Grotesk-Komische. Sinnsuche in Zeiten von Internet: Schreiber hat Bauersimas Versuchsanordnung sehr ernsthaft inszeniert, überwiegend zügig, manch Videoeinstellung zieht sich ein wenig, zum eigens von Borscht komponierten, sphärischen Klangteppich. (Claudia Ihlefeld)
Alles gesehen, alles erlebt
Ist es Langeweile, Neugierde, Verzweiflung? Ist es Rache an den Eltern oder das Scheitern an aufgedrückten Konventionen? So recht will sich ein plausibler Grund dem Zuschauer nicht erschließen, warum die 20-jährige Juli und er 19-jährige August, die sich im Internet kennengelernt haben, gemeinsam aufbrechen, um sich von einem Felsen in Norwegen in den Tod herabzustürzen. Im Grunde wissen es die beiden ja selbst nicht. Warum leben, warum sterben? Warum zu zweit und nicht allein? Warum Morgen, warum nicht jetzt?
Sie sind ein ungleiches Paar, die gut behütet aufgewachsene Juli, die krampfhaft auf die Ernsthaftigkeit ihrer Todesabsichten pocht, und der pausenlos vor sich hin kaspernde Loser August, der stets ein letztes Hintertürchen offenzuhalten scheint. “alles schon gesehen, alles schon erlebt” hat Juli und “keinen Hunger mehr”, außer dem Ziel, ihr scheinbar unbedeutendes Leben wenigstens mit einem einzigartigen Tod aus der Eintönigkeit zu hieven. “Sich ganz weit hinauslehnen, endlich einmal alles sagen und tun – ohne Konsequenzen”, das will auch August. Ein Leben ohne Netz und doppelten Boden, davon träumen beide – aber es auch wirklich wagen?
Einfacher ist es, das perfekte Leben und den perfekten Tod zu inszenieren, die eigene Realität erst einmal virtuell zu erproben. Was echt sein soll und was nicht, das bestimmen Juli und August per Hand-Videokamera und verlieren sich in endlosen Proben zur perfekten Abschiedsrede, wechseln die Rollen von sensibel, vorwurfsvoll bis gefühlskalt. Wie Max Frischs “Homo Faber” benötigen sie ein Medium, um die Dinge endlich greif- und fassbar zu machen. “Wenn Ihr dies seht bin ich eigentlich tot” – “tot?” Eine überraschend erschreckende Erkenntnis für Juli. Auch zur echten Liebe fehlt der Mut, die gemeinsame Liebesnacht wird detailreich, aber nur verbal und in Gedanken durchgespielt.
Da wundert es nicht, dass Britta Schreiber gemeinsam mit Videokünstler Mirko Borscht in der Heilbronner Inszenierung von “norway.today” der medialen Technik den eigentlichen Hauptpart einräumen. Die teils pubertären Dialoge der beiden Akteure, die oft hilflos wirkende Komik, treten in den Hintergrund, wenn auf der Videoleinwand agiert wird. Nahtlos fügen sich Viola Neumann als Juli und Henning Sembritzki in das Zusammenspiel von Musik, Video und eigentlichem Bühnengeschehen ein.
“norway.today” ist ein Stück, das von seiner außergewöhnlichen Inszenierung lebt. Große Erkenntnisse will das Werk nicht liefern. Hier bleibt man angenehm simpel, wenn zum Beispiel August erkennt “Das Leben ist ein Problem”. Das Sterben scheinbar auch. (Tanja Weilemann)