Die 7 Tage des Simon Labrosse • Carole Fréchette • Gorki-Studio Berlin • Oktober 2005 (DEA)
Mit:
Stefan Wolf-Schönburg (Simon), Anna Kubin (Nathalie), Ulrich Anschütz (Leo)
Als federleicht verrückte Paraphrase der Schöpfungsgeschichte gönnte die 1949 in Montreal geborene Autorin Carole Fréchette auch dem arbeitslosen Titelhelden in ihrer absurden Komödie „Die sieben Tage des Simon Labrosse“ eine Woche zum Handeln, Wandeln und Ausruhen. An Einfällen reich, an Einkünften arm, hat er keine Chance, will sie aber nutzen. Nachdem er sich als Bedürfnisdienstleister über den Kreuzweg der Marktnischenentwicklung und Selbstvermarktung gequält hat, verspricht er dem Publikum, werde dieses sich ungemein befreit vorkommen: Denn er, Simon Labrosse, habe dadurch stellvertretend zwar nicht gerade die Sünden, doch zumindest die Sorgen seiner Besucher aufgelöst – indem er sie mit seinen eigenen Problemen torpedierte.
Im Studio des Berliner Maxim Gorki Theaters setzt Fréchettes so witziges wie kluges Stück, 1997 in Kanada uraufgeführt, die sich über die gesamte Saison erstreckende Serie des Hauses unter dem Motto „Und die Hoffnung stirbt zuletzt …Arbeit für alle!“ fort. Die leere weiße Bühne von Halina Kratochwil senkt sich nach hinten stark zu einer Wand mit fünf Türen ab, die allerdings – wie die Zukunft der drei Figuren – verschlossen bleiben. Für sein statirisches Realtheater hat sich Simon nämlich zwei weitere Arbeitslose engagiert: die Selbsterforschungsexpertin Nathalie, die alle Frauen, und den depressiven Kellerpoeten Léo, der alle Männer in Simons Laufbahn darstellt.
Britta Schreiber inszeniert die deutschsprachige Erstaufführung als flotten Dreier mit doppeltem Boden über die einfachste Tatsache des Universums: Ohne Moos nix los. Stephan Wolf-Schönburg gibt gefaßt und gediegen den planmäßig optimistischen Simon, der sich bizarre Geschäftszweige wie Gefühlsstuntman, persönlicher Zuschauer, Satzbeender, Ego-Schmeichler oder Gewissenserleichterer ausdenkt. Er lächelt noch tapfer wie ein Märtyrer, wenn seine Visitenkarten zerrissen werden, und hört nicht auf, seine exquisiten Tätigkeiten „zu wirklich wettbewerbsfähigen Preisen“ anzubieten, auch wenn er bloß Ablehnung bis hin zur Prügelstrafe kassiert. Ein gefallener Engel in Turnschuhen, der in aller Unschuld auf den Unterschied zwischen leben und leben lassen aufmerksam macht. Und ein närrischer Dulder ohne jedwede Absicherung, der die Defekte in den Beziehungsgeflechten ringsherum findet, ohne sie zu kritisieren, weil er hofft, dank seiner individuellen Pannenhilfe an ihnen Geld verdienen zu können.
Mit den Worten „Es ward ein Abend, es ward ein Morgen. Und Simon verlor des Mutes nicht“ kündigt Anna Kubin als Nathalie wie ein übereifriges Nummerngirl die nächste Runde an. In der spielt sie etwa als Simons Sparringspartnerin ein naives Herzchen, dem er – natürlich vergeblich – durch konzentriertes Betrachten den Eindruck von Prestige, Charisma und Schönheit vermitteln will: lieber gekaufte Bedeutsamkeit statt gar keiner.
Als Sozialfall im fortgeschrittenen Stadium zeigt Ulrich Anschütz den von groteskem Pessimismus geplagten Léo. Dem hat in jungen Jahren ein herabstürzender Ziegelstein das Sprachzentrum für die positiven Begriffe zerstört. Jetzt kann er nicht einmal mehr „ja“ sagen, selbst wenn er es wollte. In der Rolle eines zornigen Passanten will er Simon dazu bringen, gegen Bezahlung im Villenviertel Scheiben einzuschlagen oder sich einer Protestdemontration anzuschließen. Derlei Leistungen enthält dessen Angebotspalette indes nicht, obwohl ihm wegen Mietschulden der Rausschmiß droht und sein teurer Kassettenrecorder gepfändet wird. Am Schluß bleibt Simon, diesem Heiligen ohne Schein und Sein, nur das nackte Leben, und von dem will erkünftigen Kunden berichten: als „Leerefüller“.
Eine kleine, feine Inszenierung, gut und schnell und so amüsant durchgespielt, als gäbe es doch noch einen Sinn und Zweck auf der Welt – aber dann wird es wie aus heiterem Himmel finster, und alles ist vorbei. (Irene Bazinger)
Ich arbeite, also bin ich – das war einmal. Deshalb macht der Arbeitslose auf der Bühne Karriere: Das Gorki Studio widmet ihm eine ganze Reihe. Slapstick ist wieder der letzte Trost für den Entzug von Sinn in einer Farce aus Kanada.
Mit Visitenkarten ist es wie mit Turnschuhen. Wer die richtigen hat, darf mitspielen; wer nicht, Game over. Bret Easton Ellis begriff das Protzen mit Visitenkarten in seinem 90er-Jahre-Yuppie-Roman „American-Psycho“ als unbarmherziges Gesellschafts-Spiel, Metapher für die krankhafte Oberflächenfixiertheit jung-dynamischer Neureicher: „Wir beugen uns vor und inspizieren Davids Karte, und Price sagt leise: ,Die ist wirklich nett'“
Auch Simon Labrosse hat Visitenkarten, nur will die keiner sehen. Ein aggressiver Herr, dem sich der Held des Dramas „Die sieben Tage des Simon Labrosse“ als „Gefühlsstuntman“ anbietet, zerreißt die Karte in tausend Stücke. Das Spiel ist aus, Ende, könnte man denken. Nicht jedoch für Simon Labrosse, denn der ist jung, dynamisch, kreativ und flexibel, wie es die heutige Arbeitswelt verlangt – und dennoch arbeitslos.
Mit der deutschsprachigen Erstaufführung des Stücks der Frankokanadierin Carole Fréchette widmet sich das Gorki Studio einer Facette der Massenarbeitslosigkeit, die selbst vor dem gut ausgebildeten Nachwuchs längst nicht mehr Halt macht. Das Gorki Theater nimmt dies ernst, so ernst, dass es unter dem Motto „Und die Hoffnung stirbt zuletzt …Arbeit für alle!“ sechs Ur- und Erstaufführungen auf den Spielplan gehoben hat. Ich arbeite, also bin ich – das war einmal.
Britta Schreibers Inszenierung der Farce ist der zweite Beitrag der Reihe – und bestimmt nicht der schlechteste, wenn auch bei der Premiere der Slapstick ein bisschen überhand genommen hat. Konzipiert als Spiel im Spiel, bedient es sich einer wohlbekannten und konventionellen Form: „Sie sind gekommen, sich mein Leben anzuschauen“; macht Simon (Stephan Wolf-Schönburg) dem Zuschauer gleich zu Beginn klar, was ihn in den kommenden 75 Minuten erwartet. Bevor’s losgehen kann, muss ersich allerdings erst mal mit den Macken seiner Mitspieler rumschlagen: Nathalie (Anna Kubin), die immerzu von ihren Organen erzählen will, die sie offenbar für ihre inneren Werte hält, und Léo (Ulrich Anschütz), der einen Riss in der Hirnrinde hat, „Genau an der Stelle, wo die Wörter entstehen, und zwar die po…äh…die po…“ Er meint die positiven. Folglich bleibt ihm gar nichts anderes übrig als die ganze Zeit rumzugranteln – herrlich, wie sich Anschütz in seine Rolle reinwirft. Nathalie spielt alle Frauenrollen in Simons Leben, vom naiven jungen Ding bis zur verknöcherten alten Jungfer, und Léo alle Männer, alles Arschlöcher übrigens.
Im kargen weißen Bühnenraum (Halina Kratochwil) hasten sie also mit wenigen Requisiten und in Kleidern, deren Grün und Blau ohne Wärme ist, durch das Destillat einer traurigen Existenz. Keine Arbeit, keine Freundin – und am siebten Tag nicht mal mehr Mitspieler. Simon Labrosse, den Wolf-Schönburg als verstörende Mischung aus Traumtänzer und Strippenzieher gibt, sagt völlig ungerührt: „Alle meine Probleme dürften im Grunde tröstlich für Sie sein:“
Das Gegenteil ist der Fall, denn natürlich ist das hier mehr als Theater, Labrosse Stellvertreter von fünf Millionen Deutschen ohne Arbeit. Wie ein Maikäfer, der auf den Rücken gefallen ist, strampelt dieser Labrosse um sein Leben, seinen Platz in der Gesellschaft. Ein Sisyphos, der mit seinem Schicksal noch keinen Frieden geschlossen hat. Das Publikum muss tatenlos zusehen und sich am Ende auch noch diesen Vorwurf gefallen lassen, sich am Leid anderer zu ergötzen. Eine Ohrfeige als Schlusspointe eines bittersüßen Theaterabends. (David Denk)
Das erste Vergnügen bereitet die dramaturgische Intelligenz dieser Farce aus Kanada über eine gesellschaftliche Krankheit, der sich niemand entziehen kann: Arbeitslosigkeit. „Die sieben Tage des Simon Labrosse“ ist ein Titel, der als solcher kaum jemanden ins Theater locken würde, und die Autorin, eine in den neunziger Jahren mehrfach mit Preisen ausgezeichnete Kanadierin, Carole Fréchette, ist hierzulande auch so gut wie unbekannt. Das müsste sich nach dieser Entdeckung des Gorki-Studios eigentlich ändern. Stücke, die sich explizit eines aktuellen Themas kritisch annehmen, stehen immer in der Gefahr, dass man vor lauter Respekt für die Botschaft und die guten Absichten die Schwächen und Mängel der Form übersehen soll. Nichts davon hier: Eine höchst raffinierte Dramaturgie macht die übermittelte Botschaft zum intellektuellen Vergnügen. Das deutsche Theater hat keine Tradition der Farce wie etwa Frankreich mit Labiche oder Feydeau oder der englische und amerikanische Boulevard – allenfalls Büchners „Léonce und Lena“, das zu genial war, um Schule zu machen, können da genannt werden. „Die sieben Tage des Simon Labrosse“ führen vor, was eine gelungene Farce nicht nur an Tiefsinn zu transportieren vermag, sondern auch wie vergnüglich intelligentes Theater noch immer sein kann.
Ein Langzeitarbeitsloser, der Titelheld Simon, will uns, dem Publikum – gegen Geld natürlich – seine Geschichte erzählen und heuert dafür seinen alten Freund Léo und eine Zufallsbekannte, Nathalie, wiederum gegen etwas Geld, als Mitspieler an. Er konzentriert seine Lebensgeschichte auf sieben Tage und sieben originelle Einfälle, die er gehabt hatte, um sich damit wieder Arbeit zu schaffen – keine hatte funktioniert. Die beiden spielen das alles uns, dem Publikum, vor, brechen aber immer mal wieder verabredungswidrig aus ihrer, der Geschichte Simons dienenden Rolle aus und versuchen, sich selber einzubringen, etwas auch von sich selbst zu erzählen: am Ende, am siebten Tag, sind wir am Anfang des Stückes angelangt: Simons letzter Einfall war es gewesen, uns, dem Publikum – gegen Geld – sein Leben zu erzählen: Jetzt kann alles wieder von vorn beginnen.
Das zweite Vergnügen ist bitter: Carole Fréchette macht es sich nicht leicht mit ihrem Thema. Denn was in unserer Gesellschaft gehlt ist nicht die einfache Form beliebiger Tätigkeit bzw. physischer Arbeit, sondern es ist ihre psychische, ihre seelische Dimension, die aus Zugehörigkeit und Kollegialität entsteht und unter deren Fehlen die betroffenen Menschen auch dann leider, wenn der Sozialstaat ihnen ein materielles Existenzminimum garantiert. Simons geniale Erfindungen von „Arbeiten neuen Typs“ versuchen eben dieses Gefühls-Vakuum zu füllen und den emotional bedürftigen Menschen ihr bescheidenes Quäntchen an menschlicher Anerkennung gegen eine bescheidene Bezahlung zu verkaufen: Da versucht er es mit dem „Gefühls-Stuntman“ der sich anbietet, den Partner zum Bespiel eines entfremdeten Vaters zu spielen (1.Tag) oder er mimt den „Zuschauer“, der einen Menschen einfach bei jeder Tätigkeit beobachtet, damit der sich wahrgenommen fühlen kann (2.Tag), dann gibt er den „Satzbeender“, der witzige Pointen zu leergelaufenen Konversationen liefert (3.Tag), den „Ego-Schmeichler“, den „Sorgenabnehmer“ – ein Höhepunkt! – und den „Liebhaber“ (4.bis 6.Tag) – alles, wie Simon anbietet, „Dienste, die die Menschen aus ihrem beschränkten Leben führen könnten“: Die komödiantische Farce macht das zu einem Feuerwerk an Einfällen, Missverständnissen, Verwicklungen und wieder Auflösungen, mit denen die knapp neunzig Minuten wie im Fluge und viel zu schnell oder doch gerade die richtige Zeit vergehen, denn da wird kein Einfall überreizt oder ausgewalzt – es ist ein kleines Feuerwerk der Pointen.
Das dritte Vergnügen bereiten die als drei kontrastierenden Typen höchst glücklich gewählten Schauspieler unter der einfallsreichen, auf Tempo setzenden und nie die feine Trennungslinie der Farce zugunsten des Klamauks übertretenden Regie von Britta Schreiber. Ulrich Anschütz spielt Léo, den verbitterten Alten, dem ein Ziegelstein das Gehirn so beschädigt hat, dass er nur Negatives und Pessimistisches aussprechen und zu Gedichten machen kann, und der das Spiel mitspielt gegen das Versprechen, mit dem gemachten Geld eine Schädeloperation bezahlen zu können, damit er wieder positiv denken und sprechen kann – idealer Stoff für eine Farce. Anna Kubin als Nathalie täuscht uns anfangs, als sei sie eine verklemmte, unbeholfene Schauspielschülerin und Anfängerin, um sich dann um so großartiger in ihre vielgestaltigen Rollen zu steigern (wie sie bei der Premiere einen Schmiss spielerisch-improvisierend auffing und zur Solonummer umfunktionierte, war ein kleines Meisterstück, das nur das lebendige Theater miterleben lässt), und schließlich Stephan Wolf-Schönburg. Dem schien die Titelrolle geradezu auf den Leib geschrieben zu sein – die Verzweiflung des Kleinen Mannes (an einer Stelle spiegelt sie sich in einem minutenlangen Leidensgesicht), seine Unbeugsamkeit unter den Schicksalsschlägen der Zurückweisungen – „ich arbeite mit aller Kraft daran, wieder auf die Beine zu kommen“ -, diese Mischung aus falschem und echtem Optimissmus dessen, der Optimismus wie eine Ware verkaufen muß, an die er selbst nicht mehr so recht glaubt: Am Ende entdecken wir in Simon Labrosse einen modernen Franz Biberkopf.
Man darf dem Maxim Gorki Theater dafür und für den Mut zu dieser Themenreihe „Arbeit für alle – und die Hoffnung stirbt zuletzt“ dankbar sein. Dreifaches Vergnügen an bitterer Wahrheit. (Ekkehart Krippendorf)