Nachtblind • Darja Stocker • Landestheater Schwaben, Memmingen • 16. Januar 2008
Trailer: myvideo.de
Undine Schmiedl (Leyla)
Anke Fonferek (Mutter)
Stefan Neuhaus (Moe)
Boris Popovic (Rico)
Presse
Das nennt man aktuell: In diesen Tagen der hitzig geführten Diskussionen um Jugendgewalt steht am Landestheater Schwaben in Memmingen „Nachtblind“ auf dem Spielplan. Thema des Dramas von Darja Stocker: das Leben junger Menschen zwischen Gefühlskapriolen und Gewaltausbruch, Angstzuständen und Aggressivität.
Britta Schreiber inszenierte, und wie sie mit dem Schauspieler-Quartett Undine Schmiedl (Leyla), Anke Fonferek (Mutter), Moe (Stefan Neuhaus vom Theater Konstanz, der kurzfristig für den erkrankten Tobias Bode einsprang) und Boris Popovic (Rico) das Stück auf der Werkstattbühne am Schweizerberg umsetzte, verdient großen Respekt.
Die Inszenierung geht unter die Haut und räumt mit der Demagogie auf, dass Gewalt nur in unteren Gesellschaftsschichten einen Nährboden hat: Aus wohlhabenden Verhältnissen stammt Leylas Freund, der „Große“, der sie mit Schlägen traktiert, wenn sie nicht so will wie er, und der das Rennen um Leylas Gefühle gegen den Konkurrenten mit Prügeln austrägt. Der Mensch ist ein unberechenbares Wesen, und so kann sich Leyla überhaupt nicht leichten Herzens von ihrem „Schläger“ trennen – denn der habe doch schließlich auch seine guten Seiten.
Kalter Rücken-Schauer
„Nachtblind“ beschreibt Verhaltensmuster, aus denen auszubrechen mitunter schwerfällt. Leyla geht’s wie der Mutter – einer Journalistin, die bei der Tochter Defizite erkennt, die sie selbst bei sich abzuschaffen nicht in der Lage ist.
Undine Schmiedl schlüpft in die Rolle der gefühlsschwankenden Leyla mit einer Wucht und Authentizität, die tief beeindruckt. Wenn sie ins Publikum blickt, in leicht gebückter Haltung mit Zuckungen in Armen und Beinen, kann sich der Zuschauer einem kalten Rücken-Schauer kaum entziehen.
Und Anke Fonferek glänzt in der Rolle einer Mutter, die zwar kurz versucht, die wahren Gefühle ihrer Tochter auszuloten, dann aber doch mit erhobenem Finger einen lautstarken Streit vom Zaun bricht, in dem keiner mehr dem anderen zuhört.
Die traurige Erkenntnis: Wo Ohren verschlossen sind, werden sich Werte wie Toleranz und Achtung nur schwer durchsetzen.
Memmingen: Die wegen Krankheit des Hauptdarstellers verschobene und nahezu in letzter Minute mit einem Gast besetzte Premiere im Theater am Schweizerberg war zwar leider nicht so gut besucht wie erwartet, aber denoch ein großer Erfolg für alle Beteiligten. Das Stück „Nachtblind“ – von einer blutjungen Autorin geschrieben – behandelt beklemmend zeitnahe Themen, die nicht nur Jugendliche angehen.
Leyla (Undine Schmiedl), Tochter aus „gutem Hause“ (Vater Arzt, Mutter Journalistin) ist auf dem dornigen Weg vom behüteten Mädchen zur jungen Frau und auf der Suche nach ihrer Identität. Das Verhältnis zu ihrer Mutter (Anke Fonferek) ist zwiespältig und von beiderseitigem Unverständnis geprägt. Als sie entdeckt, dass der geliebte Vater sich mit „einer anderen“ trifft, reagiert sie voller Verachtung für die Haltung der Mutter, die den Schein der gutbürgerlich heilen Welt wahren möchte. Der jüngere Bruder (Boris Popovic) reagiert seine pubertären, zunehmend gewalttätigeren Aggressionen an Schwester und Mutter ab. Leyla zieht sich in sich und eine andere Welt zurück, eine Welt voller Farben, die sie sich mit dem Sprayen von Graffiti schafft. Dabei trifft sie den introvertierten Moe (Stefan Neuhaus a.G.) und „es funkt“ bei ihr. Das verwirrt sie sehr und sie lässt lieber „die Fetzen fliegen“, wie der junge Mann es zunächst empfindet. Denn es gibt da noch einen, den Leyla den „Großen“ nennt und dessen Brutalität sie für einen leidenschaftlichen Liebesbeweis hält. Moe ist sanftmütig aber farbenblind und Leyla scheint blind vor Liebe zu dem anderen, dessen Druck auf sie die Mutter auch noch unterstützt.
Regisseurin Britta Schreiber, deren unkonventionelle Inszenierung von „Diener zweier Herren“ in Memmingen beim Publikum gut ankam, führt die Schauspieler mit subtilem Einfühlungsvermögen durch das dramatische Geschehen. Undine Schmiedl – fast so jung wie die Autorin – beeindruckt stark mit verbaler Intensität und Körpersprache, mit der sie als Leyla agiert: Sie spielt es nicht nur, sie lebt das junge Mädchen, das verzweifelt seinen Weg sucht. Anke Fonferek – oft statuenhaft im Schatten – zeigt hier mit wenig Text, doch ausdrucksstarker Mimik und sparsamen Gesten ihr bestechendes Talent, seit Jahren Garant für anspruchsvolles Theatererlebnis. Boris Popovic gibt dem jugendlichen Rebellen gegen das Establishment (wem kommt das nicht bekannt vor?) Farbe und Authentizität und Stefan Neuhaus, der den Moe bereits in Konstanz spielte, fügt sich harmonisch ins Ensemble. Tobias Bode – inzwischen wieder genesen – bekommt seine Rolle ab Februar zurück und wird sie dann „ganz anders“ spielen, wie er sagte. Da darf man gespannt sein, denn die verschiedene Gestaltung von fiktiven Figuren macht Theater interessant.
Das Bühnenbild von Britta Lammers ist verblüffend – eine schlichte Holzwand umgibt die Akteure wie ein undurchdringliches Gefängnis, ein Absatz dient Leyla als Rückzugsort und für ihre Begegnungen mit Moe. Gegen diese Wand schlägt sie auch wie rasend ihren Kopf bei eskalierendem Streit mit ihrer Mutter: physischer Schmerz gegen psychische Verletzung.
„Nachtblind“ ist ein Stück, das den Zuschauer erst aus seinem Bann entlässt, wenn das Licht angeht. Man spürt: Hier spricht eine junge Frau, der es gelungen ist, eigene Erfahrungen mit einer ausdrucksvollen Sprache ohne gängigen Jargon zu vermitteln. Darja Stocker erhielt für ihr Erstlingswerk den Autorenpreis des „Heidelberger Stückemarktes“. (Matern)