WILDER OSTEN • APRIL DE ANGELIS • ZIMMERTHEATER TÜBINGEN • 01.03.2014 (DEA)
Schauspieler: Johannes Karl, Nicole Schneider, Viola Neumann
Dramaturgie: Michael Hanisch
Video: Simon S. Müller
Regieassistenz: Janne Wagler
Regie, Bühne und Kostüme: BRITTA SCHREIBER
Presse
(von Kathrin Kipp)
Extremsituation Assessment Center: Das Stück „Wilder Osten“ erzählt vom Überlebenskampf im Arbeitsdschungel. Die deutschsprachige Erstaufführung am Zimmertheater ist eine amüsante britische Satire.
Wenn man in den Abgrund stürzt, sieht man vor dem inneren Auge sein Leben als Kurzfilm, heißt es. Bei einem Bewerbungsgespräch kann einem ungefähr das Gleiche passieren. Nur nicht so chronologisch, sondern eher im Querschnitt gelangen da so manche persönliche Defizite und Highlights an die Oberfläche.
Auch der knackfrische Uni-Absolvent Frank soll nun auf Herz, Verstand und Psyche stressgetestet werden. Durch die Mangel genommen wird er von Dr. Gray und Dr. Pitt, denen allerdings selbst das Wasser bis zum Hals steht: Vielleicht werden sie selbst bald „verschrottet“?
Und so gerät das Casting bald außer Kontrolle und entwickelt sich zu einer prickelnden Kannibalenrunde, in der munter provoziert, beleidigt, gelogen, privatisiert, koaliert, intrigiert und ritualisiert wird. Fressen oder gefressen werden. Nebenbei geht es darum, einer höheren, virtuellen Macht zu beweisen, dass man hinreichend gierig und skrupellos ist, um die Interessen der Firma im „Wilden Osten“ entsprechend vertreten zu können. Oder sollte man sich eher teamorientiert präsentieren? Man weiß nicht so recht, welche soft und hard skills oben gerade angesagt sind.
Jedenfalls herrscht das allgemeine Grundgesetz des Dschungels, und die britische Autorin April De Angelis hat das Ganze mit viel Sarkasmus, Ironie und asozialer Schärfe vertextet. Und so ist „Wilder Osten“, 2005 am Londoner Royal Court Theatre uraufgeführt, eine garstige Satire auf die elastischen Vorstellungen von Moral und Menschlichkeit im Raubtierkapitalismus. Der Titel ist somit keine Anspielung auf die Entwicklungen in der Ukraine, aber genauso strategisch, propagandistisch und kriegerisch geht es ja auch im Wirtschafts- und Arbeitsleben zu.
Und so wird Frank (Johannes Karl) mit diversen Fragen, Psychotests und Rollenspielchen attackiert, von denen weder die Zuschauer noch die Beteiligten immer wissen, was genau jetzt geprüft wird und wer genau jetzt den Überblick hat. Denn geprüft werden auch die beiden Personaltesterinnen selbst, weswegen das Bewerbungs-Happening auf Video aufgenommen und „direkt ins Nervenzentrum der Organisation eingespeist“ wird. Simon S. Müller (Video) und Regisseurin Britta Kristina Schreiber, die den Assessment-Krimi recht spritzig inszeniert, haben dafür auf der Bühne eine Green Box installiert, mit der für die mysteriöse (und ebenfalls ständig ausgetauschte) Führungsebene immer die passenden Hintergünde gezaubert werden. So wird nicht nur psychologisch und körpersprachlich, sondern auch technisch getrickst, vorgetäuscht, geschauspielert und multiperspektivisch beleuchtet, so dass die gute alte Wahrheit nicht nur für die Zuschauer, sondern auch für die Figuren mehrfach verstellt ist.
Hübsch vertrackt kommt auch der Rollenspiel-Test daher, bei der Frank die sibirischen Ureinwohnerinnen (Dr. Pitt und Dr. Gray in liebevoller Verkleidung) innovativ ermarktforschen soll. Die russischen Originale diskutieren allerdings gleichzeitig ihre privaten Liebes- und Eifersuchtsgeschichten, die sie als dann doch recht menschlich veranlagte Firmenroboterchen miteinander haben. Nicole Schneider als Dr. Pitt schafft es wieder mal hervorragend, sich in ihren Doppel- und Dreifachrollen als Personalprofi, Ex-Geliebte, Verbrechensopfer, russische Oma und Kollegin gleichzeitig und abwechselnd sarkastisch, abgebrüht, opfermäßig, beleidigt, epileptisch, solidarisch, abgebrüht und dann wieder ganz sensibel zu geben – ein undurchschaubares, aber auch eigensinniges Chamäleon, das sich flexibel und mehrfarbig der Umgebung anpassen kann.
Johannes Karl wiederum als jugendlich verklemmter, überforderter, nervöser und ziemlich verpeilter Job-Kandidat ist businessmäßig der totale Reinfall, tritt in jedes Fettnäpfchen und präsentiert sich als Kommunikationsgurke sowie absoluter Pointenkiller – also für die direkte Konkurrenz völlig ungefährlich. Im (Arbeits-)Leben kommt es somit vor allem darauf an, die ständig wechselnden Gegebenheiten jeweils spontan für sich zu nutzen.
Viola Neumann wiederum geht als rigorose Dr. Gray über Leichen und killt ihre Konkurrenten gerne mit nervtötenden Weisheiten aus ihrer Bibel „Sieben Schritte zu mehr Effektivität“. Aber weil Frank zwar peinlich, aber nicht blöd ist, kontert er die Angriffe des streitlustigen Psycho-Doppels kreativ mit der Inszenierung wilder Naturvolk-Rituale, mit denen er Dr. Pitts gebrochene Seele repariert. Und in Sachen Zerstörungslust kann er mit den zwei Raubtierkatzen noch lange mithalten. Oder ist am Ende alles wieder nur Show? Auf jeden Fall aber wieder mal ein Riesentheater.
(von Heiko Rehmann)
In Russlands »Wildem Osten« geht es ruppig zu. Im Westen auch. Das lernen wir aus dem gleichnamigen Stück der Britin April De Angelis, das am Samstagabend im Tübinger Zimmertheater seine deutsche Erstaufführung erlebte. Im Osten schlägt der Zuhälter zu, im Westen der Kapitalismus, der den Osten erobern will. Dafür stellt die Firma neue Leute ein, die Aufträge in Russland akquirieren sollen, obwohl gleichzeitig Mitarbeiter entlassen werden. Nicht ungewöhnlich im Turbokapitalismus.
Ungewöhnlich ist eher der Kandidat, der sich beworben hat. Frank (Johannes Karl) ist Anthropologe mit besten Zeugnissen und stolpert herrlich tollpatschig in sein Vorstellungsgespräch. »Abends bestellen die einen hierher. Das geht gegen die innere Uhr«, schimpft er, worauf Dr. Pitt abgeklärt lächelt: »Ich fühle mich geschmeichelt, dass sie mich für jung genug halten, Ihre Mitbewerberin zu sein.« So stolpert Frank von einem Fettnäpfchen zum nächsten, während ihn Dr. Pitt und Dr. Gray durch die Mangel drehen.
Aber geht es den beiden Karrierefrauen um Frank oder noch um etwas ganz anderes? Allmählich schält sich heraus, dass sie nicht nur mit ihren gegenseitigen Eifersüchteleien kämpfen, sondern auch um ihre Jobs. Mal versucht die eine der beiden Frauen den Kandidaten gegen ihre Konkurrentin zu instrumentalisieren, mal die andere. Frank ist halb verwirrt, halb verzweifelt, doch da stecken die drei Figuren längst in einem Psychodrama, aus dem es kein Entrinnen gibt. Einer der Drei wird das Spiel verlieren – aber wer wird es sein?
Gastschauspielerin Viola Neumann gibt Dr. Gray mit solcher Kälte, dass es einen fröstelt. In Nicole Schneiders Gesicht spiegelt sich die emotionale Achterbahnfahrt der Dr. Pitt. Mal ist sie selbstbeherrscht, mal fürchtet sie weinerlich um ihren Job. Einen epileptischen Anfall stellt sie beängstigend realistisch dar.
Johannes Karl spielt mit wunderbar differenzierter Mimik und Gestik das Nervenbündel Frank, in dessen gequältem Lächeln sich Anspannung und Hoffnung spiegeln. Mit verkrampften Armen und Beinen sitzt er da, blinzelt verloren in die Kamera, die das Gespräch aufzeichnet, und schwankt zwischen hilflosen Antworten und pseudointellektuellem Gehabe.
In der Inszenierung der freien Regisseurin Britta Schreiber wird die Unmenschlichkeit des Turbokapitalismus sichtbar, indem sie sich ganz auf ihre Figuren und deren psychische Verrenkungen konzentriert und fast alles Beiwerk fortlässt, bis auf einen Samowar, der gemütlich im Hintergrund köchelt.
Schließlich kriecht Frank über den Boden, das Vorstellungsgespräch ist längst völlig entgleist, zündet Räucherstäbchen an und beginnt ein schamanisches Ritual. Mit herrlich verrenkten Gliedern hüpft er über die Bühne. »Ich habe ihre Seele verschluckt«, sagt er zu Dr. Pitt. »Ich kann sie Ihnen wiedergeben.« »Nein die können Sie behalten.«
Am Ende steht Frank vor der Entscheidung, ob er seine Seele verrät, um den Job zu kriegen. Mit ihrem Stück hat April De Angelis die kapitalistische Variante des Teufelspaktes beschrieben. Auch wenn es sich dabei wahrlich um keine neue Einsicht handelt, mag es von Zeit zu Zeit gut sein, die Welt gespiegelt zu bekommen, in der wir leben. (GEA)
(von Wilhelm Triebold)
Stellungskrieg im Einstellungsgespräch: Das Zimmertheater bringt als Deutschsprachige Erstaufführung das Stück „Wilder Osten“ heraus
Tübingen, April De Angelis‘ Bühnenstück „Wilder Osten“ hat erste Weihen am Londoner Royal Court Theatre erhalten und müsste eigentlich zimmertheatertauglich genug sein. Es handelt vom modernen Arbeits-Kampf unter herrschenden rüden Gepflogenheiten, vom kapitalistischen Überlebenskampf. Jeder ist sich selbst der Nächste (und versucht das notdürftig zu kaschieren).
Jeder kämpft gegen jeden und bigott gegen alle. Und ein jeder Mensch ist des Menschen Wolf – oder doch eher des Menschen Problembär?
Im Gewölbe des Zimmertheaters, wo jetzt die Deutschsprachige Erstaufführung heraus kam, empfängt uns neben der angestrengt streng guckende Aktrice Nicole Schneider ein niedliches Filmchen. Darin steppt tatsächlich, wie süß, der Bär. Auch kann er Kung Fu. Ansonsten bettelt er durch die offene Windschutzscheibe, wahrscheinlich um Naturjoghurt. Doch rollen nicht plötzlich Panzer durchs Bild, womöglich am Strand auf der Krim?
Wenn dies nun der wilde Osten ist, fängt alles schon mal abstrus genug an. Das ist aber noch gar nichts gegen das, was im Verlauf des folgenden Vorstellungsgesprächs ein liebenswürdig verträumt-vertrottelter Kandidat an zusammenhanglosem Geschwafel von sich gibt. Der unbedarfte Bewerber namens Frank zeigt sich heillos überfordert von der Rollenspiel-Lage, in die ihn zwei scheinbar taffe Firmen-Damen bringen – zu Testzwecken, ob er für einen seltsamen Akquise-Job im fernen Sibirien geeignet sei.
Frank – und der Schauspieler Johannes Karl macht das ziemlich überzeugend – redet vor mitlaufender Videokamera reichlich Blödsinn. Das wiederum ist sein Job in diesem Stück. Dabei ist es so simpel gestrickt, dass man sich wundert, wenn dem zuständigen Theaterverlag, der die Rechte vertritt, dazu das Stichwort David Mamet einfallt.
Dessen Qualitäten genügt dieses quasselstrippenziehende Schmalspurdrama, das vom Hölzchen zum Stöckchen und vom Joghurt um T-Shirt kommt, um dann wie erwartet allen Anstand in Bausch und Ellenbogen zu verdammen, in keinster Weise. Gewiss, die Hölle sind immer die anderen. Auch hier heizen zwei entsolidarisierte, geschlossen agierende Gesellschafterinnen einem Dritten ein. tun sich auch selber zu bekriegen. über Bande und mit harten Bandagen. Testerin Dr. Pitt (Nicole Schneider) war zwischendurch raus aus dem Business und fightet mit allen Mitteln und Unmöglichkeiten um den Anschluss. oder wenigstens gegen den Ausschluss. Dr. Gray (Viola Neumann), mit der sie mal was hatte, bevorzugt gezinkte Karten und linke Tricks. Wie’s ausgeht, das wird natürlich hier nicht verraten. Nur soviel: Einer (oder eine) der Drei bleibt auf der Strecke. Zickenkrieg zwischen zwei weiblichen Top Dogs, und dazwischen heilige Jungmänner-Einfallt – das hätte vielleicht doch noch ganz spannend oder zumindest unterhaltsam werden können. Doch weder die Inszenierung noch das Dreier-Ensemble bekommen den richtigen Zugang zu dem Stück und damit den nötigen Zugriff. Regisseurin Britta K. Schreiber konnte anscheinend mit der Vorlage nicht so viel anfangen, flüchtete sich ins plaudernd-plänkelndeArrangement. Johannes Karl gibt dem – sich zum Affen machenden – Frank gehörig Zucker, haspelt und hampelt sich so sehr überkandidelt durch die Handlung, als befinde er sich in einem Bewerbungs-Durchlauf für die Comedy Stube. Nicole Schneiders Dr. Pitt blickt – bei aller paranoiahaft hochkommenden Verbitterung – der drohenden Ausmusterung immer noch erstaunlich gefasst und gouvernantenhaft ins fratzenmäßige Gesicht. Alles Weitere an Fratzen und Grimassen übernimmt sowieso Dr. Gray die Viola Neumann als Gast schauspielerisch arg prononciert oder eben pointiert übergeigt.
Kurzum: Eine insgesamt eher eindimensional eingenordete Versuchsanordnung. Oder mehr noch: Der Versuch, etwas zu ordnen. „Da draußen ist die reinste Wildnis, die hassen uns“, schwant den Protagonisten. Nur, im Dschungelcamp muss man deshalb noch lange nicht landen.
WILHELM TRIEBOLD