Die Nacht kurz vor den Wäldern • Bernard-Marie Koltès • Kammerspiele Deutsches Theater Berlin • März 2002
Der Kerl im Dunkeln dort wartet auf uns. Klar, er würde uns ansprechen: „Kamerad“. Ein Arbeitsloser, ein Geldloser, überhaupt: ein Loser. Sucht ein Zimmer für den Rest der Nacht. Sucht den Rest von Macht über sein Leben. „die Nacht kurz vor den Wäldern“ heißt der Monolog des Franzosen Bernard Marie Koltès, Romancier und Dramatiker, der 1989 im Alter von 47 Jahren stirbt.
Irgendwann in diesem Monolog erzählt der Mann, der von Huren und Liebe und Muttersöhnchen spricht, die Geschichte vom umzingelten Wald: Soldaten schießen auf alles, was sich bewegt, ob Vogel oder Blatt. Was lebt, störe. Das ist die Situation: Jede Stadt, jeder Tag ist – dieser Wald. Umzingelt ist, wer liebt, sich öffnet. Verloren ist, wer sich der Lust hingibt. Schuld daran sind die Mütter, die „vererbte Empfindlichkeit“. Dagegen propagiert der Mann sein internationales Syndikat: „zu verhindern, dass man geil wird, jederzeit und überall“. Fassung! Haltung! Selbststrenge! Dann den Verderbern gemeinsam „die Haut abziehen“, den Bullen, den Nutten, den Polizisten, den Bossen. Jetzt, Syndikalisten, seid ihr frei…
Britta Schreiber hat im Werkraum der Kammerspiele des Deutschen Theaters Regie geführt, Robin Oliver Focken die Bühne gebaut, Robert Gallinowski spielt. Links und rechts Gassen, die sich nach hinten verengen. Assoziation von hellen Marmorplatten, wie sie in kalten Hotels der Nach-Hopper-Zeit auf einen Lift zulaufen. Am Ende der Bühne dann auch ein Schlitz im Raum. Ein halb geöffneter Fahrstuhl? Abgrund? Fluchtchance? Das Freie? Von dem niemand mehr weiß, was es eigentlich ist? Und was es noch soll? Später ist der Spalt in Blau getaucht. Hinten also Himmel, vorne Hölle. Wer sagt, dass es im Himel besser sei? Das Blau – ein Strich Hoffnung? – lockt nicht.
Auch dies ein Zeichen für die Gegensteuerungsmechanismen der Inszenierung. Im Stück ist ständig von Regen die Rede, von „Scheißwind“ und aufgeweichten Klamotten, von einem Dunkel in all jenen Zwielichten, zu denen die Nacht fähig ist, von zermürbenden Anfechtungen durch Nässe – und der da inmitten monologisiert, ist ein Abgerissener. Schreiber, Focken und Gallinowski aber holen diesen Mann in die Neutralität einer mittleren Bürgerlichkeit. Also: kein Ausgestoßener fremdartiger sozialer Zurichtung wird präsentiert. Nicht jener Unglücklichhe par excellence, den wir so gern in den dunklen Seitensträngen der Bürgerlichkeit beheimatet wissen wollen. Nein, das da vorne ist der helle Anzug des Büroalltags. Das ist die Genervtheit der Büroschluss-Stunden. Das ist die Austauschbarkeit der täglichen Anpassungsquälereien. Das ist die unsägliche Selbsterfahrung im Hamsterrad. Hier redet kein Exotiker der feuchten stinkenden Gasse, hier philosophiert kein Extravagant der Verlorenheit – hier redet ein ganz normales Arschloch des ganz normalen Überlebenstrainings. Den es in seinen letzten Reflexionen in ein Selbstbewußtsein und in eine Identität verschlägt wie in eine Perversität – ähnlich Michael Douglas in „Falling Down“.
Der Schauspieler Robert Gallinowski ist, was immer er spielt, eine sehenswerte Woyzeckiade. Das Schwere in ihm schlägt noch jeden Witz – nieder. Drückt alles ins kreatürlich Umschmerzte. Noch jede sportive Lockerheit hat im Blut das Bleigift einer bösen Lähmung. Noch jede Manneskraft ist gezeichnet von gehetzter Untauglichkeit. Bis zur Verkrümmung, die aber unentwegt Muskeln zeigen will. Da lauert eine Jägerseele in der Brust der gequälten Beute, aber unterm Kostüm des Jägers schlägt auch das Herz eines Gejagten. Ein Schauspieler, der sich gern ins körperliche treiben lässt, mit Genuss am öffentlichen Schweiß. Ein Arbeiter des Extremen – wohl noch viel zu wenig gefordert in seinen Gratwanderungen zwischen Wildniss und Zivilisation, zwischen steinernem Ernst und romantischer Schwüle, zwischen strotzender Geschmeidigkeit und neurotischer Schräglage.
Hier präsentiert Gallinowski präzis, mit Sinn für emotionale Stufungen, die Reduktion menschlichen Verhaltens auf ein letztes Bewegendes: die Angst – und nur die ist es ja immer wieder, die epochale Folgen freisetzt. Dieser Mann, der ind der Metro in zwei Rockern eine Chance nahezu erotischer Annäherung sieht, muß erkennen: Die greifen ihm nur des Geldes wegen in die Hosentasche. Gallinowski zeigt, wie feige Ergebenheit und abgrundtiefe Verletztheit in eine radikale Gewaltpsychose umkippen. Die Aufführung wird zum Psychogramm eines Lebens, das sich erhält, indem einfach „alle Spiegel zugehängt“ werden: „Ich mag nicht, was einen daran erinnert, dass man fremd ist“. Tilgung von Realität – damit sind täglich Millionen Menschen beschäftigt, und sie nennen es: Arbeit, gesichertes Dasein. Koltès Aussortierter ist im Grunde ein Einsortierter, und Gallinowski wird zum Protokollanten eines überwältigenden Andrangs von Unglück. Er geht unter in Unglücksmasse. Er ist geradezu peinlich verwickelt in das, was ihm Außergewöhnlichkeit nimmt und ihn stattdessen hinüberstößt zu uns Gewöhnlichen. Die unter gesteigertem Leben immer das Falsche verstehen. Hallo, Nachbar! ruft die Inszenierung.
Der Schluss: die Hoffnung auf den Schlag, der alles still macht – die Metro, das Mädchen, einfach alles. Nichts mehr spüren, Bier trinken, auf einer Wiese liegen. Wo ist ein „Engel, mitten in dieser Sauerei“? Da ist er, der Engel: Aus dem Bühnenboden fährt eine Diskokugel hoch. Musik! „Losers Lounge“ singt World Standard. Gallinowski tanzt. Er fließt in einen Rhythmus hinein, schmiegt sich. Verliert (endlich?!) die Kontrolle, dieser Mensch. Tanzen? Ja. Nein: Zucken! Die Bewegungen deuten plötzlich eine Salve an. Trance. Der Mann im Regen, in dem wir alle stehen, löst sich auf in seinem Körper – der von der Seele einen zeitgemäßen Auftrag bekam: Jetzt in die Runde ballern können! Alle wegpusten dürfen! Der Tanz als Amoklauf. Der sich eben noch als Opfer im Wald wähnte, feiert nun selbst trunken-irr ein geträumtes Massaker. Gallinowski schwitzt. Man ahnte, es wird ein glücklicher Abend.
Andreas Schäfer
Nach den Worten von Patrice Chéreau hasste es der französische Dramatiker Bernard-Marie Koltès, wenn man seine Figuren als Ausgestoßene bezeichnete. Dabei spricht die Hauptfigur in dem Monolog „Die Nacht kurz vor den Wäldern“, dem ersten von sieben Stücken des 1989 Verstorbenen, von sich selbst als Fremden, der nachts im strömendem Regen bei der Suche nach einem Hotelzimmer scheitert. Aber das ist nur die Verharmlosung seiner Situation. Wer sein Unglück darauf zurückführt, irgendwo fremd zu sein, hat immer noch die Illusion, es ginge ihm an einem anderen Ort, in einer anderen Umwelt besser. Es ist viel schlimmer. Koltès Figuren können gar keine Ausgestoßenen sein, weil es das Gegenteil, die Dazugehörigen nicht gibt. Eine Art Restheimat versucht sich die Figur durch ihre paranoide Weltsicht zu spinnen, deren enge Grenzen sich um sie legen wie ein unsichtbares und sehr winddurchlässiges Netz.
Es sind nämlich immer die anderen schuld. Die Bauarbeiter, die sich auf der Toilette über ihn lustig machen, die Arbeit, die, wenn er sie hätte, sowieso in einer anderen Stadt zu verrichten wäre. Das schöne Mädchen, das auch keine Rettung bringt, weil es, anstatt ihn zu küssen, von rechter Politik zu schwärmen beginnt. Hin und her geworfen zwischen Verachtung für Frauen und Erlösungsfantasien bleibt ihm nur die Anrufung der Männer. Aber auch da kann er sich nicht entscheiden. Sucht er einen „Kameraden“, an den er seinen Monolog gerichtet hat, oder ein sexuelles Abenteuer? Es ist egal, denn es handeln ohnehin die anderen. Als ihm jemand die Hand in seine Gesäßtasche schiebt, dann nur, um ihm die Brieftasche zu entwenden. Am besten wäre es also, überhaupt nichts mehr zu fühlen, und so berauscht er sich an der Vorstellung eines von ihm gegründeten Syndikats. „Die Grundidee meines Syndikats ist, zu verhindern, dass man geil wird, jederzeit und überall. “ Ständig ist im Text vom Regen und von der Nacht die Rede, aber die Regie und das Bühnenbild im Werkraum der Kammerspiele, wo das Stück am Freitag herauskam, haben überhaupt nichts aufgeweicht Desolates an sich, etwas Dunkles schon gar nicht. Die hellgraue Bühne von Robin Oliver Focken ist schön ordentlich verschachtelt – angedeutete Gassen oder die Assoziationspfade des Gepeinigten. So abstrakt wie der Raum bleibt auch das Spiel Robert Gallinowskis, der dieses Solo – graues Jackett locker über den Schultern, Arm locker im Verband – vor allem dafür nutzt, um zu zeigen, was er kann. Erst cool sprechen, später verzweifelt brüllen oder böse gucken wie Jack Nicholson (die Brauen wie zwei Teufelshörnchen außen nach oben gebogen). Er gibt den Verlorenen vor allem mit geschmeidigem Rhythmusgefühl und fährt den Text wie einen Riesenslalomkurs souverän ins Tal, ohne bei seinen lockeren Schwüngen etwas von der Not und Ohnmacht spüren zu lassen. Tanzen kann Gallinowski auch sehr gut, und so hat ihm die Regisseurin Britta Schreiber zum Schluss eine kleine, aber unmotivierte Einlage geschenkt. Aus einer Luke im Boden steigt eine Diskokugel in den Bühnenhimmel, flugs wird aus dem Jackett eine Partnerin, mit der der Schauspieler einen tangoähnlichen Tanz zelebriert. Aha.