Schwäbisches Tagblatt | 25. April 2015 | Knebel raus und hoch die Tassen | (von Peter Ertle)
Unterm Strich: Ein packender Theaterthriller über die Aufarbeitung der Gewalttaten des Pinochetsystems, vielmehr als das aber ein existentielles Drama über den Umgang mit tiefen Verletzungen, die wir uns gegenseitig zufügen, über die Frage, wie und ob Verzeihen möglich ist.
Ach, es beginnt so verdammt sanft und smart. Ein Strandhaus, eine Frau, Paulina, auf der Liege, ihr Mann, Gerardo, kurz vor der Beförderung, alles relaxed, wohlhabend, bürgerlich, der Vorhang weht, sicher riecht es nach Meer herein. Garniert mit ein paar Körnern eines müden Ehestreits. Ein Miniaturmisstrauen als Vorspiel für das große, das Drama. Ansonsten: Heile schöne Welt, als Kontrast. Der Abgrund ist überall. Und die Nachricht: Gerardo hatte eine Panne. Ein anderer Autofahrer hielt an, half. Zum Dank hat er ihn eingeladen. Ariel Dorfrnans Stück „Der Tod und das Mädchen“ gilt als Stück über Chile und die Gewalttaten während der Pinochet- Diktatur. Was es auch ist. Aber schon Dorfman schrieb damals als Ortsangabe: „Ein Land, wahrscheinlich Chile, aber auch jedes andere Land, das sich zu einer demokratischen Regierung bekennt, kurz nach einer langen Zeit der Diktatur.“ Und tatsächlich, je mehr Zeit seit Pinochet vergeht, desto mehr tritt der konkrete politische Bezug in den Hintergrund. Mehr noch: „Der Tod und das Mädchen“ funktioniert sogar als Fallstudie für alle Arten tiefer Verletzung, die wir uns gegenseitig zufügen, auch im privaten, zwischenmenschlichen Bereich. Es ist kein Zufall, dass Dorfman das Stück Harold Pinter gewidmet hat. Es geht um die Frage, ob Verzeihen möglich und sinnvoll ist, ob es so etwas wie eine zufriedenstellende Sühne geben kann. Und das Stück bezeichnet das emotionale Dilemma, fair und rechtsstaatlich mit Verbrechern umgehen zu müssen, zeigt, dass es darauf möglicherweise richtige Antworten gibt, solange diese Dinge auf dem Papier stehen und von Kommissionen und Anwälten betreut werden. Was aber, wenn man selbst Betroffener ist? Ist „Der Tod un d das Mädchen“ also ein Theateranhängsel für eine soziologisch-politisch-religiöse Disputation? Weit gefehlt. Dieses Stück ist Theater pur, ein Thriller, existentiell, körperlich, beklemmend. Kein Wunder, dass es in den 90er Jahren ein Renner war, als der Theaterkrimi, der damals auch schon griff, sich noch mit der zeitlichen Nähe und endlichen Aufarbeitung der Pinochet-Ära verband. Blick auf die Bühne, hinein ins Stück, wir erinnern uns: Gerardo hatte eine Panne. Ein anderer Autofahrer hielt an, half. Zum Dank hat er ihn eingeladen. Und dann ist er auch schon da, der andere. Mann und Mann trinken Whiskey, reden, Paulina hört hinter der Tür. Der andere, Roberto, soll über Nacht bleiben, Frühstück ist versprochen. Nächste Szene: Früher Morgen. Sie (Paulina ) schlägt ihn bewusstlos, fesselt, knebelt ihn. Kaum eine Szene eines Theaterstücks kommt so schockartig. Und keine bringt so viel nicht-symbolische, sondern Realität eins zu eins wiederholende Wucht auf die Bretter. Denn auch wenn Robert Arnold weiß, dass er Roberto nur spielt und auch wenn Nicole Schneider ihn sicher so knebelt und fesselt, dass er keine Marterqualen erleidet: Er sitzt jetzt die nächste Stunde erst mal mit einem Stoffballen im Mund, die Arme an Stuhllehnen gebunden, der ganze Körper bis knapp unter die Nase und die ganze Stirn mit Klebebändern zugeschnürt. Da kann man schon Panik bekommen. Auch auf den Zuschauer überträgt sich dieser Ernst, diese körperliche Zumutung sofort. Und das ist gut so. Paulina will also Rache nehmen, denn in Roberto glaubt sie, ihren Peiniger und Vergewaltiger von damals erkannt zu haben. Gerardo, ihr Mann, berufen in eine Kommission, die sich mit der Aufklärung der Greueltaten des Pinochetsystems befasst, ist außer sich, als er hinzukommt. Aber Paulina hat eine Pistole. Paulina , die Emotion, die Betroffene, Gerardo der Kopf, die demokratische Gesellschaft, zwei Stellvertreter. Dorfman weiß, dass beide für eine glückende Aufarbeitung zusammenkommen müssten, keine Alleingänge. Sie müsste sich mehr zu ihm bewegen, auf ihn vertrauen können. Kann sie aber nicht, denn – Kommissionen schön und gut – die Gerichte waren kurz nach der Wende zur Demokratie noch Verhinderungsanstalten. So kommt es zu einem Privatverhör, aufgenommen mit dem Cassettenrecorder und dem Versprechen Paulinas, Roberto nach einem Geständnis frei zu lassen. Bis es so weit kommt, gibt es allerdings die größten Psychokämpfe zwischen den drei Beteiligten, dem (in den kurzen Momenten, in denen man ihm den Knebel aus dem Mund nimmt) seine Unschuld beteuernden Roberto, dem verzweifelt Rechtsstaatlichkeit einfordernden (und um seine Karriere bangenden) Gerardo und einer Paullna, die auf dem schmalen Grat zwischen Traumatisierungswahn und völlig nachvollziehbaren Rachegelüsten agiert. Futter für die Schauspieler, großes Theater von Frank Siebenschuh, Nicole Schneider, Robert Arnold. Regisseurin Britta Schreiber stellt sich ganz in den Dienst des Stücks, kein Regietheater, gutes Handwerk. Bis zum Ende aber wissen wir nicht mit absoluter Sicherheit, ob Roberto wirklich Paulinas Folterer war, denn sein Geständnis plappert das aus, was Paulina Gerardo und dann Gerardo wieder Roberto um des lieben Friedens und gelungenen Geständnis Willens erzählt hat. Es gibt zwar darüberhinaus gehende Hinweise auf Robertos Täterschaft, aber auch die entstammen wohlgemerkt Paulinas Mund. Und es ist auch ganz gleichgültig. Am Ende, alles ist überstanden, alles könnte überstanden sein, sehen wir Gerardo und Paulina auf einem Empfang, der Übergang ins zivile, demokratische Leben ist geglückt, das mit der Karriere hat doch funktioniert. Alle lächeln und heben die Gläser. Auch Roberto, weiter hinten stehend. Paulina dreht sich um. Die Vergangenheit bleibt. Sie rückt nur immer weiter nach hinten. PETER ERTLE
Reutlinger Nachrichten, 25. April 2015 Vergangenheit in Frischhaltefolie (von Kathrin Kipp)
Es ist ein Stück mit konkreten Diskussionen und Emotionen, das von Britta Schreiber (Regie und Ausstattung) auch realistisch und figurenfokussiert in Szene gesetzt wird. Auf der Terrasse vor einem Ferienhaus - das Publikum spielt quasi Meer - konzentriert sich das Ensemble auf die Ausgestaltung der Charaktere und deren emotionale Achterbahnfahrt in der Extremsituation.
Mit Ariel Dorfmans „Der Tod und das Mädchen“ zeigt das Zimmertheater einen Psycho-Thriller über den Umgang mit politischen Verbrechen. Von 1973 bis 1990 herrschte in Chile das Militärregime des Diktators Pinochet, 1991 wurde Ariel Dorfmans Kammerspiel uraufgeführt. In den 90ern war es ein viel gespieltes und 1994 von Polanski verfilmtes Theaterstück, das die politische, juristische und psychologische Aufarbeitung von Folterverbrechen durch ein diktatorisches Regime diskutiert. Weil sich Menschenrechtsverletzungen und deren Aufarbeitungen wohl überall auf der Welt mit ähnlichen Symptomatiken abspielen, bleibt Dorfman, was Ort und Ende seines Theaterstücks anbelangt, bewusst vage. Für sein Stück hat er eine knifflige Dreierkonstellation konstruiert, mit vermeintlichem Täter, Opfer und persönlich involviertem Anwalt. Es ist ein Stück mit konkreten Diskussionen und Emotionen, das von Britta Schreiber (Regie und Ausstattung) auch realistisch und figurenfokussiert in Szene gesetzt wird. Auf der Terrasse vor einem Ferienhaus – das Publikum spielt quasi Meer – konzentriert sich das Ensemble auf die Ausgestaltung der Charaktere und deren emotionale Achterbahnfahrt in der Extremsituation. Nicole Schneider ist als Paulina Salas seit ihrer Folterung und Vergewaltigung durch die Schergen des Militärregimes vor 15 Jahren schwer traumatisiert. So zückt sie auch schon mal den Revolver, wenn sie unbekannte Geräusche oder Stimmen hört. Dieses Mal ist es aber nur ihr Mann, Frank Siebenschuh als smarter Anwalt Gerardo Escobar, der zu spät nach Hause kommt: Autopanne. Geholfen hat ihm Robert Arnold als Roberto Miranda, ein Arzt, der seinerseits die Gelegenheit ergreift, Gerardo als zukünftiges Mitglied der Untersuchungs-Kommission danach auszuhorchen, wie man mit Folterern und Mördern des Regimes juristisch verfahren wird. Viel ist nicht zu befürchten, die Kommission darf keine Namen nennen, nur Beweise sammeln, die wiederum der Justiz vorgelegt werden, die sich seit der Militärdiktatur personell nicht wirklich erneuert hat. Paulina erkennt in Roberto an dessen Stimme ihren damaligen Peiniger, der sie nicht nur gequält und vergewaltigt hat, sondern auch noch mit Schubert-Musik gefoltert hat, die deshalb als wiederkehrendes Motiv die Szenerie untermalt. Paulina erkennt ihre Chance auf persönliche Genugtuung, fesselt Roberto und erzwingt ein „Geständnis“. Gerardo ist als Jurist alles andere als begeistert, so entsteht eine heftige Diskussion darüber, ob Selbstjustiz oder offizielle juristische Aufarbeitung das richtige Mittel sein sollte und ob man mit Rache nicht nur die Gewaltspirale weiter dreht, wo doch das Ziel einer Demokratie Aussöhnung sein sollte. Außerdem ist weder klar, ob Roberto tatsächlich der Schuldige ist, noch, wer in der durch die Vergangenheit tief verwundete Ehe wem was vormacht. Und so schwingen stets mehrere Möglichkeitsebenen mit, was das Stück von einer schnöden Betroffenheitsgala zu einem tricky Diskursthriller geraten lässt. Nicole Schneider gibt mal das verzweifelte Opfer, mal den euphorischen Racheengel mit Quällust, dann wieder die sarkastische Pessimistin. Aber immerhin kann sie mit ihrer Geiselnahme einen kleinen Machtmoment erzeugen. Ihr Mann Gerardo sitzt in der Zwickmühle – zwischen Loyalität zu seiner Frau, seinen humanistischen Überzeugungen, der Tatsache, dass er im Zweifel für den Angeklagten sein sollte, und seinem natürlichen Hass gegen alle, die seine Frau misshandelt haben. So verliert auch Siebenschuhs Gerardo trotz aller rhetorischer Gewandtheit manchmal die Kontrolle, zumal er nicht weiß, ob er seiner Frau noch trauen kann. Robert Arnolds Roberto schmiert sich zunächst als leutseliger Schleimer ins Haus, zeigt dann aber erst mal relativ wenig Aktion. Paulina hat ihn und damit auch ihre Vergangenheit schön mit hoch symbolischer Frischhaltefolie eingepackt. Kaum hat er aber wieder den Mund frei, streitet er natürlich alles ab, bettelt, winselt, jammert und appelliert an Gerardos Vernunft, kann aber auch seine zynische Macho-Seite nicht verbergen. So, dass Gerardo ein wenig mehr von seiner Schuld überzeugt ist und man auch als Zuschauer zur Annahme neigt, dass er der Schuldige ist. Aber wie so oft gibt es auch in diesem Fall keine echte Lösung